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Zwischen Inzidenz und Wahnsinn – Herbst 2020 in München

Zwischen Inzidenz und Wahnsinn

Ach, meine lieben Mitspazierer*innen, wenn ich dieser Tage so durch unser München spaziere… ok, genauer gesagt in den Supermarkt husche und ansonsten schaue, dass ich schnell wieder heimkomme, meine Sozialkontakte auf ein paar sehr übersichtliche wenige Freunde beschränke und ansonsten sehr viel vermisse…
Also, wenn ich das unter dem Strich zusammenzähle, ist es schon verdammt übersichtlich. Und: Winter is coming. Vermutlich auch heuer wieder ohne Drachen, dafür mit den dunklen Schwingen des Trübsinns.
Zu Hause Gespräche, mit wem man sich wo wann wie treffen kann, will, traut, letztlich nichts mehr als stochern im Trüben. Das Virus kann dich überall erwischen oder nirgends, Inzidenzzahlen bestimmen den holprigen Rhythmus der Stadt, Wahrscheinlichkeitsrechnungen mit viel zu vielen Unbekannten das private Unglück.

Die Kleinen in München triffts wie immer hart

Als ich mich vor Kurzem samstags Vormittag der Außenwelt in Form des lokalen Lidl aussetzen wollte, erwischte mich die Wirtshaus-Wiesn. Um halb 10 in der Früh. Volle Gehwege, halbvolle Maßkrüge, viertelt volle Leute, Masken gehören wohl nicht zur Tracht.
Auch wenn ich mich nicht in vor-Corona-Zeiten dazugestellt hätte, schlichtweg, weil mir der Drang, mich mit Getränk in der Hand vor was auch immer zu stellen fehlt, zerreißt es mir doch das Herz. Das ist Leben, völlig normales Leben, und doch so weit weg. Ich verstehe die Gastro-Leute in München nur zu gut. Nicht nur die Wirte. Vor allem an all die Leute, die auf die Jobs angewiesen sind. Student*innen, die sich ihr Studium erkellnern. Mieten die bezahlt und Kinder, die gefüttert werden wollen. Künstler, die keine Bühne mehr haben, statt Applaus im Herzen und Gage im Geldbeutel ein paar Klicks auf YouTube und drei Likes auf Facebook. Die Situation trifft alle, die oft beschworenen und noch öfter fallengelassenen „Kleinen Leute“ aber noch viel mehr.

Yuppies paradise

Die Stadt ist eh schon längst zum Spielplatz der gut-, besser und ganz gut Verdienenden geworden. Arbeiter – sofern es noch welche gibt – sind längst aus den Arbeitervierteln in München verdrängt, von Menschen, die im festen Glauben an endloses Wirtschaftswachstum auf Millionen-Hypotheken im sanierten Altbau sitzen und vermutlich jeden Abend dem heiligen Sankt Kommerzius ein Kerzerl ins Fenster stellen. Die Pandemie wird das noch beschleunigen, die Abwanderung ins bezahlbarere Umland ist in vollem Gange. Also nach Niederbayern, den S-Bahn-Bereich kann ja auch keiner mehr zahlen. Während die Glücklichen, die den Ausblick ins Nirgendwo dann vom Home-Office-Schreibtisch aus genießen können, damit vermutlich etwas Lebensqualität gewinnen, kommt es für die anderen knüppeldick. Der Großteil derer, die „systemrelevante“ Tätigkeiten von Supermarkt bis Krankenhaus ausüben, wohnen jetzt schon weiter draußen. Lange Arbeitswege, öffentlicher Nahverkehr – oder das, was durch Missmanagement und Kaputt-Sparen davon übrig ist – rauben Lebenszeit. Und im Infektionsfall möglicherweise auch noch gleich das Leben selbst. Schlechte Löhne plus uferlose Arbeitswege sind die logische Konsequenz der Entwicklung – und ein weiterer Nagel in den Sarg dessen, was wir mal urbane Kultur nannten.

Der abendliche Stadtsturm

Wer weit draußen ausserhalb von München wohnt, geht nicht mal eben schnell am Abend in die Kneipe ums Eck. Schon gar nicht jetzt. Ausflüge in die Stadt sind logistische Operationen, die einen möglichst hohen Unterhaltungswert bringen sollen, zumindest mehr, als ein Abend am Dorfplatz in Hinterschoasbiselbach zu bieten hat. Das Ergebnis war denn auch am Gärtnerplatz, im E-Garten und sonstwo diesen Sommer sehr gut zu beobachten. Sehr zum Missvergnügen der Hypotheken-Halter ein paar Etagen drüber – und auch sehr zum Missvergnügen der Stadtverwaltung. Ja, es war chaotisch, ja, es vieles entgleist, ja, es ist in Corona-Zeiten unverantwortlich, in Massen ohne Einhaltung irgendwelcher Schutzmaßnahmen zu feiern wie 1992.

Geld kauft Schnaps. Immer.

Allerdings gibt es auch hier wie immer und überall eine B-Seite. Und auf dieser Rille spielt ganz klar die Geld- und Altersfrage.
Ich erinnere mich noch gut an einen Kalifornien-Trip Mitte der 90er. Überall war Rauchverbot in Restaurants, Kneipen Discos, Bars, Clubs. Egal wo – keine Kippen.
Egal wo? Mitnichten. In dem unverschämt teuren Restaurant, in dem wir gegen Ende der Reise in San Diego landeten, gab es eine Raucherlounge. Dafür aber – im Gegensatz zu allen anderen Locations vorher und nachher – keine Frage nach dem Ausweis bei der Alkoholbestellung.

Die aktuelle Situation erinnert mich doch sehr stark genau an das. Ich möchte ja niemandem etwas unterstellen – aber glaubt wirklich irgendwer daran, dass im Bayerischen Hof an der Bar nach 22 Uhr kein Glas Whiskey oder Champagner zu haben sein wird? Und genau hier setzt bei mir die Frage nach Sinn und Unsinn ein. Ist ein betrunkenes Gebussel vor zehn weniger ansteckend als danach? Sind reiche Betrunkene im 3-Sterne-Promi-Beisl vernünftiger als Studenten und Azubis mit der Bierflasche und dem Vodka-Mix auf dem Gärtnerplatz?
Und vor allem: was ist mit den Heerscharen an völlig nüchternen Maskenverweigerern, Quer“denkern“, Nasenraushängelassern, rücksichtslosen Rumhustern und den Leuten, die einen Millimeter schon immer als genügend soziale Distanz zu ihren Opfern empfanden?
Wäre es nicht wesentlich zielführender, die endlich einzubremsen?
In eine Bar kann ich gehen oder auch nicht. Meine Entscheidung.
Im öffentlichen Raum schaut das leider völlig anders aus.

Mit der Corona-Karte in der Hand kommt man durch die ganze Stadt

Ja, ich finde die Maskenpflicht sinnvoll. Aktuell scheint es nichts Besseres zum Schutz anderer und damit uns selbst zu geben. Wer sich außerstande sieht, diese wahrlich harmlose Geste der Mitmenschlichkeit zustande zu bringen, soll bitte zu Hause bleiben. Oder sonstwo, aber bitte sicher nicht in der Nähe anderer Lebewesen.
Die Vorstellung mit einem Straßenverzeichnis in der Hand durch München zu laufen, törnt mich allerdings völlig ab. Auf der einen Seite des Sendlinger Tors Maskenpflicht, auf der anderen nicht, Theatiner ja, Brienner nein … also mal im Ernst: was soll das?
Wie wäre es einfach mit überall? Klare Regeln, klare Ansage, sogar für die Hirse-Hitlers leicht verständlich. Und noch dazu einfach durchzusetzen.

Ein paar Deppen ruinieren es für uns alle

Apropos durchsetzen: hier sollten wir uns auch mal fragen, wo eigentlich unsere eigene Toleranzgrenze endet. Klar, wegschauen ist immer einfacher, ob Racial Profiling, der Nazi von Nebenan – oder irgendein Hirsch, der seinen Rüssel blöd grinsend in die Luft hängt. Hier den Mund (bitte hinter der Maske) aufzumachen ist keine spießige Kleinkariertheit sondern dringend notwendig. Dass dieses Virus gekommen ist, um zu bleiben, sollte uns mittlerweile wohl allen klar sein. Und dass es auch mit einer irgendwann vielleicht oder auch nicht kommenden Impfung nicht getan sein wird, zeigt die jährliche Grippewelle sehr deutlich. Das Virus hat die Spielregeln verändert, so wie einst HIV die Spielregeln in der Gay Community veränderte. Nur dass es diesmal ausnahmslos jeden erwischen kann. Wenn wir verhindern wollen, dass die Kneipen-, Klub- und Subkultur komplett den Bach runtergeht, müssen wir lernen, nach den Regeln zu spielen, die das Virus vorgibt – und uns nicht plötzlich in einem restriktiven Biedermeier 2.0 wiederfinden.

Was weg ist, bleibt weg

Aktuell sehe ich noch keine echten Bemühungen, das Rad im Zuge der Krise zurückzudrehen. Ob ich damit richtig liege? Keine Ahnung, eines ist aber sicher: es gibt an allen Ecken und Enden genügend, die das gerne tun würden. Bibelschwinger, Nachtlebenhasser, Homophobe, die, die Subkultur schon immer weghaben wollten, alles Subversive und Freie aus der Stadt kehren möchten. Die gibt es quer durch alle Parteien und Fraktionen, in alt und jung, in grün und schwarz. Je länger diese Situation auf der Rasierklinge hin zur Eskalation und echten Katastrophe läuft – und je öfter entgleisende Superspreader-Events für rapide steigende Infektionszahlen sorgen, desto lauter werden die werden.
Je länger diese Situation anhält, dieser Limbo zwischen Leichtigkeit und Lockdown, desto weniger wird von dem, was wir an Lokalen und Klubs schätzen, durchhalten. In einer Stadt, in der üblicherweise jede Gastro, die rausgeht, sofort durch Büros oder Wohnungen ersetzt wird, in der das Nachtleben unter extremen Kostendruck und Anwohnerdruck steht, wird sich das Leben auch nicht einfach wieder erholen.

Keinen Raum für die Rolle rückwärts

Wir haben es zumindest zum Teil selbst in der Hand, das zu verhindern. Sicher, viele Entscheidungen, die jetzt getroffen werden, viele Einschränkungen gerade für die Gastro sind fragwürdig und sollten hinterfragt werden. Aber Hand aufs Herz: wer, geneigte Leserschaft, möchte aktuell wirklich die Verantwortung tragen mögen? Ich zumindest nicht. Es bleibt uns tatsächlich nur eines übrig: mit Vernunft und Rücksicht gegenüber unseren Mitmenschen zu agieren, auch wenn es schwer fällt.
Und dazu gehört eben, auf Massenbesäufnisse mitten in der Stadt zu verzichten, keine Raves im Schlachthof zu veranstalten, sich aber eben auch nicht mit 30 Leuten im Wohnzimmer die Kante zu geben, weil es in der Kneipe nichts zu trinken gibt.
Denn bei aller Verwirrung um diverse Anordnungen sind die Grenzwerte und ihre unmittelbaren Auswirkungen klar. Bleiben wir drunter, ist es für uns alle sicherer. Und es gibt keinen Grund, Sperrstunden, Alkoholverbote und ähnlichen Unsinn auszusprechen.

In diesem Sinne: Maske auf, Hirn ein, keinen Raum für Viren und Covidioten
Eure Spaziergängerin

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