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Glockenbachblues an der Isar

Ein Liebesbrief an die längste Takaway-Theke der Welt – die Isar

Ach, meine lieben Mitspaziererinnen und Mitspazierer, ich weiß, es ist lang her… viel zu lang seit dem letzten Blues. Aber was soll ich sagen?
Corona mal Quarantäne gleich Lähmung
Oft angesetzt, nie durchgerungen, Marie Kondo quer durch die Wohnung und Netflix bis in die tiefsten Tiefen. Ich fürchte, ich bin nicht die einzige, der es so ergangen ist.
Das Frühjahr indes, auch wenn es nicht mehr die Triebe spießen lässt wie einst, so sorgt es doch zumindest für eine gewisse Unruhe, der dringende Apell
Krieg. Deinen. Arsch. Hoch. Und. Kümmere. Dich um. Um. Deine. Channels.
wurde zuletzt unüberhörbar.
Von daher versuche ich seit ein paar Wochen mit täglichen München-Fotos meine Facebook-Freunde zu erfreuen. Zumindest haben sich bislang keine verabschiedet, das werte ich mal als positives Zeichen. Sogar auf Instagram erreiche ich mittlerweile regelmäßig zweistellige Likes.
Wenn das so weitergeht, sehe ich einer Karriere als Kukident-Influencerin in 20 Jahren mit großer Vorfreude entgegen.

Aber zurück zum Thema, das ja hier bei mir traditionell der augenzwinkernde Spaziergang durch unser aller mehr- oder weniger geliebtes Glockenbachviertel ist. Obwohl, mittlerweile ist’s eher ein augenreibender Spaziergang, denn ich mag gar nicht wahrhaben, was ich da sehe – oder vielmehr, was ich da nicht sehe. Ich weiß ja nicht, wie es meiner geschätzten Leserschaft diesbezüglich geht, ich zumindest kann und mag mir den aktuellen Zustand nicht mehr ansehen.

Von daher – und selbstverständlich auch aus rein epidemiologisch-kontaktreduzierter Betrachtungsweise heraus, habe ich meine Touren vom Glockenbach zu Münchens Hauptbach hin verlagert: der Isar.

War selbige für mich in den letzten ein runtergekommener Grillplatz mit scherbig-steinigen Untergrund, den ich eher mied, obwohl ich nicht weit vom Flaucher wohne, hat sich dieser Halbfluss im letzten Jahr zwangsläufig in mein aushäusiges Hauptareal verwandelt.

Und ja, ich gestehe, ich lag falsch. So dermaßen falsch. Die Isar ist tatsächlich die Arterie dieser Stadt, die Luft und Energie zumindest in die inneren Quartiere pumpt. Und schön ists, wirklich. Also zumindest sehr in der Früh. Oder sehr am Abend. Also am Abend, nachdem die Horden der neuen Hundebesitzer (über die ich mich an dieser Stelle demnächst mit Sicherheit erheitern werde), der Bewegungsfanatiker und eher zufällig Anwesenden abgezogen sind.

Wenn die Sonne sich endgültig irgendwo hinter die Bavaria verkrümelt und der virtuelle Schatten nicht aufgestellter Bierzelte in die Isarauen reindrückt, dann kommt meine Zeit. Vor der Kamera das Glühen der Lichter im Wasser – und um mich rum die längste Theke der Welt.
Im Ernst, ihr Düsseldorfer: vergesst eure Rheinpromenaden. Vom Tierpark bis zum Englischen Garten sind die Isarbänke voll. Voll von einer vielleicht nicht völlig neuen, in dieser speziellen Lockdown-Variante jedoch schon ziemlich einmaligen Variante.

Das Isarfest an sich ist ja keine neue Erscheinung. Selbst eure Autorin hat an so mancher Festivität auf den Kiesbänken teilgenommen. Und betrunken über Steine und Äste geflogen – oder beim Versuch, im Stockdunklen ein Bier aus dem Kasten zu ziehen, gleich baden gegangen. Irgendwer hat immer irgendein Isarfest gemacht. Nicht, dass es unbedingt irgendwer war, den man kennen musste.

Ich gestehe: als Neuperlach-Kids mit großer Neugierde auf die weite Welt, noch größerem Durst und leider dazu völlig unpassendem Geldbeutel sind wir in den Sommern der frühen 80er oft an die Isar geradelt. Mit nicht recht viel mehr als ein halbes Packerl Tabak in der Tasche aber dafür jugendliche Frechheit im Überfluss im Gepäck, haben wir uns um größere Gruppen rumgedrückt, bis wir ein paar Namen, die öfters zu hören waren, aufgeschnappt hatten. Diese Namen waren unsere Getränkebons, sozusagen. Denn wenn uns wer beim Angeln von ein paar Augustinern aus dem Kasten im Wasser misstrauisch kam, zog das immer:
Wir gehören zum Franz.
Mir san von der Susi.
Ein August in der Hand, und weiter gings zum nächsten Feuer, wer schon mit einem Bier kam, war nicht des Schnorrens verdächtig.
Besondere Magnete waren natürlich immer die Feuer mit Reggae-Musik. Aber ich schweife ab.

Solche Parties sind zur Zeit naturgemäß Off-Limits. Die Münchner Polizei fährt am Wochenende die Aufgebote an die Isar, die wohl ansonsten Hooligan-Gruppen vor den Stadien trennen, wahrscheinlich, um in Übung zu bleiben. Dazu kommen die Isar-Wachtl, die auf der Einhaltung der mehrhundertseitigen Grillordnung bestehen.

Also: keine Parties, kein Feuer. Dafür Kleingruppen. Vom Einzelgänger mit belegtem Baguette und Bordeaux zum Sonnenuntergang-Watching am Friedensengel bis zum völlig Regel-unkonformen Rudel im Gebüsch neben dem Kiosk an der Reichenbachbrücke. Und alles dazwischen.
Die Abendzeitung erklärte letztens das „Cornern“ zur neuen Trendsportart. Ich weiß ja nicht, wo sich deren Reporter:innen so rumtreiben, aber an der Isar cornered keiner. Denn wer ist schon im Stehen Pizza aus der Schachtel. Und das, meine werten Leser ist tatsächlich das Phänomen der ersten lauen Abende in der Stadt: Pizzaschachteln, soweit das Auge blickt. Keine Ahnung, wo die in diesen Massen herkommen – aber sind gerade am Isarradlweg auch unglaublich viele Foodora-Fahrer unterwegs.
Ob die auch zu „gleich neberm Flauchersteg auf der Gay-Insel links, siehst uns schon, wir san die mit dem grünen Lautsprecher“ liefern?

Apropos Lautsprecher: jede, aber wirklich jede Gruppe ab einer Person aufwärts schleppt einen dieser JBL-Lautsprecher mit. Und wisst ihr was: ich bin zutiefst neidisch, gehöre ich doch noch der Generation, die tonnenschwere Boomboxen an die Isar geschleift haben, die neben mehreren Dutzend sauteurer AA-Batterien auch jede zweite Kassette gefressen haben. (für die Jüngeren: Kassette gefressen ist die analoge, prähistorische Version von „Spotify-Playliste versehentlich gelöscht“).

Aber zurück zur wahrscheinlich längsten Takeaway-Theke der Welt (ok, zumindest in Bayern, aber das ist ja so ähnlich): auch wenn es leider mit einem ebenso furchtbaren wie vermeidbaren Müllberg endet: ist es nicht wunderbar, wie sich diese Stadt und ihre Einwohner immer wieder neue Freiräume und Rituale schaffen? Leute, die sich mit Sushi, Pizza, Nummer 23 Süß-Sauer und korrespondierenden Getränken ihre ganz persönlichen Terrassen- und Promenaden-Restaurants erschaffen, den Sonnenuntergang genießen, in die Nacht driften. Wenn ich heimrollere, einen Chip voller Fotos und frisch aufgetankte Laune im Herzen – Gelächter, Spaß und positive Vibes den ganzen Fluss entlang. Ob das alles hundertprozentig Auflagen-konform ist? Vielleicht nicht, aber ich glaube nicht, dass daran das finale Schicksal unserer Spezies hängt, wenn ein paar Leute im Freien zusammensitzen, essen, trinken, lachen. Und sich eine ganz spezielle Form der Nacht zurückholen.
Ihre eigene.
Unsere.
Die Isar-Nacht.

Ich bin Sarah Jäckel, verspreche Besserung und wöchentliche Blogs von jetzt an.
Wer meine Isar-Fotos sehen mag:
Facebook oder auf Instagram, www.instagram.com/thebitgirl/

Ansonsten gibt es bald wieder Neues auf YouTube www.youtube.com/sarahjaeckel
oder www.sarahjaeckel.com

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