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Drauf geschissen – ein Lokalzeitungs-Rant

Ach, meine lieben Mitspazierer:innen, Freitag ist’s, und damit ein Wochenende vor uns. Zeit für einen Rant.
Wetter durchwachsen, Inzidenzen mau, weitere Aussichten: zweifelhaft. Die üblichen Online-Portale strotzen von R-Werten, K-Fragen, in der Bundestag-live-Schalte blasen sich die blauen Schlümpfe auf – und auch das trägt nicht gerade zu meiner grundsätzlich etwas fragilen Gesamtstimmung positiv bei. Bevor mir auch noch der Storch über den Bildschirm flattert, ist ein Programmwechsel angesagt. Denn Doomsday-Scrolling droht akut.

Was läge nun in unserem geliebten Millionendorf näher, als mal wieder die Lokalpresse zu besuchen? Üblicherweise völlig frei von beunruhigenden Inhalten wie Politik und Pandemien, dafür ein leicht verdauliches Menü nach Art der Abendzeitung:

Rosenblüten-Süppchen vom Bachelor handgerührt
*
Pastete schöne und halbnackte Münchnerin
*
Gespickter Lewandowski-Rücken an Löwensenf
*
Eine Auswahl schlecht gereifter Promi-Käse
*
Ein Dessert aus zuckrigen Tierbildern

Dazu wird als Begleitgetränk gereicht, was immer gerade von den Hauptsponsoren empfohlen wird. Sekt oder Selters, Spaten oder Sol, da ist man in der Werberedaktion nicht zimperlich. Für die Metropolregion München – Augsburg – Ingolstadt – Hinterschoasbiselbach gerade der richtige Mix, denn wo kämen wir hin, wenn wir zwischen Uschi Glas-Creme, Carmen Geiss-Prosecco und Uli Hoenes-Gemotze mit echten Nachrichten belästigt werden würden.

Mit der AZ verbindet mich einiges – nicht nur ein Rant

Mein erster Arbeitsplatz, um genau zu sein. Mein damaliger Boss und Ausbilder war zwar eigentlich ein BILD-Mann, langjähriger Titelsetzer darselbst, gelesen hat er sie allerdings nicht. Dafür aber die AZ. Neben den vielen Dingen, die ich von ihm lernte – danke für meine ersten Schritte in die Grafik und Presse, vor allem aber für Carlos Castaneda, Franz, ich werde es dir nie vergessen – stand Büro-Smalltalk zum ersten Mal in meinem Leben auf der Agenda. Nun hat sich der Franz für vieles interessiert, aber im Kern ging es um

Fahrzeuge mit Stern
Ficken
Fußball

Nun hielt sich mein Interesse an Autos der gehobenen Mittelklasse im überschaubaren Rahmen und sexuell waren wir in verschieden Galaxien unterwegs.
Blieb Fußball. Zwar hatte ich auch davon keinen Dunst, doch die AZ versorgte mich täglich auf dem Arbeitsweg mit dem Gesprächsstoff für den Tag. Bis zu meinem letzten Tag in seiner Firma, das war auch der letzte Tag AZ für mich. Rückwirkend kann ich mit Fug und Recht behaupten, mich zur Halb-Experting für den FC Bayern der frühen 90er hochgelesen zu haben. Und nebenbei hat es meinen Berufswunsch entscheidend mitgeprägt: Lokaljournalismus rutschte in der Liste erst mal weit nach hinten. So viel zum Thema „es kommt erstens immer anders als man zweitens denkt“.

Nach diesem kleinen Exkurs zurück in die traurige Realität der Lokalportale 2021: Denn, meine lieben Mitspazierer:innen, was muss ich heute sehen: gleich ganz oben, die Headline des Tages, wichtiger als Söder, Sputnik V und die Ukraine, ja sogar relevanter als ein 70-jähriger öffentlicher Masturbator und sogar dramatischer als der tägliche Lagebericht vom Gärtnerplatz?

Das Flughafen-Drama. Was sonst?

Nicht dass ihr jetzt denkt: ups, die Alte wird jetzt ernst, Jobverluste, rostende Maschinen, versprengte Touristen in der Endlos-Schleife zwischen Test und Quarantäne.
Nein, nein, mit so viel Realität verschont uns die AZ – und ich auch. Außerdem ist es viel schlimmer.
Ein „polizeibekannter 24jähriger“ (also vermutlich einer, der halt am Flughafen rumhängt) hat …
Tam Tam Tam
sich vor dem Büro der Bundespolizei erleichtert.
Groß.

Mit anderen Worten: einer hat vor die Türe geschissen
und die AZ macht daraus ernsthaft die Meldung des Tages.

Kann man machen.
Muss man aber nicht, auch wenn der Erleichterer laut eigener Aussage schon musste.

Mir fällt dazu echt nichts mehr ein. Darum und in diesem Un-Sinne: ich wünsche ein geruhsames Wochenende. Mit der Washington Post, Netflix, YouTube, YouPorn oder der Apothekenumschau, je nach Geschmack und individueller Lebensphase.

Aber bitte nicht mit der Abendzeitung. Denn wer den Gärtnerplatz zum größten Sündenbabel aller Zeiten hochstilisiert, seit 25 Jahren das Westend als das kommende Szeneviertel wähnt und mit einem Haufen vor der Bundespolizei-Türe titelt, hat das digitale Medienzeitalter nicht nur verpasst, sondern restlos vergeigt.

Eure Spaziergängerin

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