Preloader
 

Wirtshaus-Wiesn-Wahnsinn

Billiges Dirndl

Meine lieben Mitspazierer*innen,
manchmal muss man die Reihenfolge ändern. Wie ich heute. Darum kommt Blog #2 vor Blog #1. Denn ich habe eine Stinkwut, und die muss raus.
Wenn ich dieser Tage durch die Stadt flanieren würde – was ich aus gegebenen Gründen und bei dem Wetter sich nicht tue, würde ich nichts vermissen. Nicht die Touri-Massen in schrecklichen Plastikdirndln und Gummi-Krachlederner von einem Dirndl-Discounter, der wahrscheinlich „Jodel-Wahnsinn“ oder „Alpen-Depp“ heißt. Noch die Walzen an Büro-Menschen in gehobenem Landhausstil, die sich auf Kosten irgendwelcher Corporates vollgefressen und zugesoffen haben, prall durch die Stadt wanken und mal so richtig die Sau rauslassen. Was meist in Peinlichkeiten endet, die sogar ihnen selbst peinlich wären, hätten sie nicht vor lauter Selbstoptimierung und New-Work-No-Life-Balance den Blick auf irgendwas Relevantes nicht längst verloren. Am wenigsten aber vermisse ich die penetrant-dümmliche Hofberichterstattung unserer geschätzten Lokalpresse, deren Horizont schon außerhalb der Wiesn kaum über den Olympiaberg reicht, während der Wiesn sich aber definitiv auf den Ausschnitt einer C-Prominenten beschränkt, deren Lebensleistung sich auf den  17. Platz im Casting für eine nie produzierte RTL2-Show beschränkt.

Ja, ganz ehrlich, es ist mir völlig egal, ob nun Wiesn ist oder nicht. Es gibt viele gute Gründe sie zu mögen, ich verurteile niemanden, der 16 Tage am Stück rausgeht und glücklich damit ist. Es gibt auch viele gute Gründe, sie nicht zu mögen, ohne dass es einen gleich zum Spielverderber macht.

Warum?

Aber könnte mir mal bitte irgendwer auch nur einen einzigen guten Grund für den Wahnsinn, der euphemistisch verbrämt als „Wirtshaus-Wiesn“ daherkommt, nennen? Warum zum Geier sagt man die Wiesn (zurecht) ab, um nachher auf engstem Raum in traditionell schlecht durchlüfteten Wirtshäusern Massenbesäufnisse zu veranstalten?
Man könnte ja nun argumentieren, dass die Wiesn in den Zelten heuer zu einer unvergleichlichen Mischung aus Wiesn-Grippen, Covid-19 und Alu-Seppl-Hut-Wahnsinn im ganz großen Stil geführt hätte und das durch die Wirtshaus-Wiesn im Rahmen gehalten wird.

Wofür?

Aber warum, bitte warum und wofür?
Wie haben seit Wochen rapide steigende Infektionszahlen.
Wir dürften seit ein paar Tagen weder in Stuttgart übernachten noch nach Mecklenburg-Vorpommern reisen. Ok, beides sind für Münchner traditionell Events, die wir unter allen Umständen vermeiden, nichts destotrotz: hier geht es ums Prinzip.Und um unser aller Leben.

Hat denn wirklich irgendwer gedacht, mit so einem Irrsinn würde der tatsächlich notleidenden Gastronomie geholfen? Wie kann man ernsthaft argumentieren, in Klubs das Tanzen zu verbieten (falls sie überhaupt öffnen dürfen) – aber auf der anderen Seite Maßen-Stemmen im Wirtskeller erlauben?
Was definiert denn Wiesn-Feeling wenn nicht enges Schunkeln, Busseln, Mitsingen? Wie wahrscheinlich ist es denn bitte, dass mit 1,5 Metern Mindestabstand geprostet und mit Maske „Who the fuck is Alice“ gegrölt wird?

Diese kurzsichtige und so durch-und-durch München-typische Idiotie macht mich rasend. Die Lobby der Stadt subventioniert sich selbst auf Kosten aller, die TZ unterfüttert das mit „16 Tage Tracht, um das Wiesn-Gefühl nicht zu verlieren“. Ja, wenn das Wiesn-Gefühl so fragil wäre, dass wir es in einem Jahr Ausfall des Selbstschutzes willen verlieren würden, wäre es auch nicht schad drum. Nur ist es eben nicht so.

Darum!

Hier geht es ausschließlich darum, Großgastronomen und Großbrauereien zu pampern, ein paar Promis ihren Auftritt zu ermöglichen (denn die würden wohl ohne dem im Gegensatz zum Wiesn-Gefühl wirklich in Vergessenheit geraten) und im Mitlaufgeschäft chinesische Schrott-Tracht an die Opfer zu bringen.

Die jungen Leute, die sich mangels Geld und Alternativen am Gärtnerplatz und sonst wo zum Feiern und trinken treffen, werden zu Superspreadern stilisiert. Das mag im Einzelfall sogar durchaus stimmen, trifft aber den Zapfhahn nicht mal auf den zehnten Schlag. Städte brauchen Freiräume, Leben braucht Subkultur – egal ob das diversen Stadträten passt oder nicht. Auch in Zeiten wie diesen. Vernunft einzufordern, während gleichzeitig das Establishment sich selig lächelnd ein Ei auf die eigenen Regeln brät, ist nicht nur schlechter Stil. Sondern Öl ins Feuer der Aluhut-Querdenker-Eso-Nazi-Was-auch-immer-Querfront. Danke, Bayern-Tribüne, vielleichtet solltet ihr Social Media nicht nur eurer Marketing-Abteilung überlassen, sondern auch mal selbst reinsehen, welche Reaktionen euer Verhalten auslöst.
Ach, meine lieben Mitspaziere*innen, ich weiß, der Kampf gegen den Irrsinn ist von Haus aus ein verlorener Kampf. Aber manchmal muss es einfach raus, sonst wird man selber auch noch deppert.
In diesem Sinne – ich wünsche ein erholsames Nicht-Wiesn-Keine-Italiener-Wochenende.
Und uns allen, dass möglichst bald ein Impfstoff kommt. Denn den brauchen wir gerade weit wichtiger als eine Maß Edelstoff.

Ich bin Sarah Jäckel, der Irrsinn tobt,
bleiben Sie gesund

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert